Freitag, 6. März 2015

Reminiszenz an Manfred W.

Manfred kämpft um sein Leben. Besser gesagt: Er liegt im Sterben.

Manfred ist einer meiner langjährigen Kollegen. Immer freundlich, immer zuvorkommend, immer hilfsbereit.
Da Manfred nicht in meinem Team ist, wusste ich nichts von ihm. Ich habe ihn immer nur in der Küche gesehen, wie er seine Thermoskanne kurz vor Feierabend gereinigt hat und wir haben ein paar Worte gewechselt. Meist über das Wetter. Seit kurzem hatten wir ein neues Thema: Seine Rückenschmerzen.

Manfred hat in einem Zimmer mit drei Frauen gearbeitet. Für jeden anderen Mann eine Horrorvorstellung. Für Manfred war das sicher ideal, denn es wurde viel geredet und er war nicht einsam. Die Frauen haben sich um ihn gekümmert und ihm gesagt, was er tun soll und was er lassen soll.

Manfred ist über 60 und steht kurz vor der Rente. Ich beneide ihn darum. Aber wie ich heute weiß, hatte er sicher Panik davor, denn er hat so gut wie nie Urlaub genommen, sondern ist quasi heimlich während des Urlaubs zum Arbeiten gekommen. Wenn er krank geschrieben war, ist er zur Arbeit gekommen und hat keinem gesagt, dass er eigentlich krank ist. Er hat keine Angehörigen. Er hat keine Freunde. Er hat keine Interessen. Er hat keine Hobbies. Aber pünktlich am 01.04. hat er seine Winterhemden eingemottet und die Sommerhemden rausgeholt. Wenn es im April kalt wurde, dann hat er halt gefroren. Er ist der einzige Mensch, den ich kenne, der noch einen Aktenkoffer mit sich rum trägt.

Manfred kam vor zwei Wochen nicht zur Arbeit. Er ist zuhause beim Kartoffelkochen umgefallen. Da er keine Angehörigen und keine Freunde hat, wussten die Kollegen nicht Bescheid und am zweiten Tag der Abwesenheit sind sie zu ihm nach Hause gefahren und haben erfahren, dass er im Krankenhaus liegt.

Die Auslöser von Manfreds Rückenschmerzen waren Lungenmetastasen. Eine tragische Fehldiagnose mit wochenlanger Fehlbehandlung.

Im Krankenhaus wurde zu allererst seine Lunge punktiert und da er eine Blutgerinnungsstörung hat, ist er dabei fast verblutet. Manfred hat bei der Krankenhausaufnahme gesagt, dass er diese Störung hat, aber niemand hat auf ihn gehört. Es fehlte ein Angehöriger, der sich für ihn einsetzt....

Manfred wurde ins künstliche Koma gelegt. Die Kolleginnen besuchen ihn abwechselnd. Niemand weiß, ob er eine Patientenverfügung hat, oder eine Vorsorgevollmacht und niemand wird von den Ärzten gefragt, was zu tun ist. Er müsste eigentlich in eine Spezialklinik verlegt werden, die mit der Blutgerinnung umgehen kann, aber er ist nicht verlegungsfähig. Wenn er diese Prozeduren überlebt, dann muss sein Krebs behandelt werden. Und vielleicht überlebt er dann den Krebs nicht.

Aber vielleicht ist das besser so für Manfred, Denn ich bin davon überzeugt, dass er nicht mehr lange zu leben hätte, wenn er in Rente kommt. Ich hatte in der Vergangenheit einen Kollegen, der analog gelebt hat und er ist ein Jahr nach Rentenbeginn gestorben.

Wenn Manfred jetzt stirbt, dann bleiben ihm viele Tage der schlimmsten Einsamkeit erspart.

Das zeigt mir wieder, dass es stimmt, wovon ich zutiefst überzeugt bin: Es wird eine unserer wichtigsten und zugleich schwierigsten Aufgaben sein, Gemeinschaft zu leben und zu erhalten. Nicht wegen Kleinigkeiten zu streiten. Eigentum zu teilen. Sich gegenseitig zu helfen.




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